Der deutsche Staat will Juden beschützen – aber kann er es auch?

Michael Wolffsohn wirft Deutschland Staatsversagen im Kampf gegen Antisemitismus vor.

Der heutige Antisemitismus auf verschiedenen Ebenen stehe in der Kontinuität deutscher Nachkriegsgeschichte, sagte Wolffsohn bei einer Gedenkstunde des Berliner Abgeordnetenhauses und des Senats anlässlich des 85. Gedenkens an die Reichspogromnacht vom 9. November 1938.

„Bundeskanzler Olaf Scholz lenkt vom Staatsversagen ab, wenn er an die Zivilcourage appelliert“, sagte Wolffsohn. Er zweifle nicht an der Schutzwilligkeit des deutschen Staates für die jüdische Bevölkerung. „Aber kann er es auch“, fragte der Historiker vor dem Hintergrund der gegenwärtigen Angriffe gegen jüdisches Leben und den Staat Israel.

Verstörende Äußerungen oder naives Wegsehen von deutschen Politikern

Wolffsohn zeichnete ein düsteres Bild des mehr oder weniger schleichenden Antisemitismus der vergangenen Jahrzehnte, in denen es immer wieder verstörende antisemitische Äußerungen, oder naives Wegsehen gegen Judenhass von deutschen Politikern gegeben habe. Dabei spannte Wolffsohn einen Bogen der deutschen Bundeskanzler von Willy Brandt, über Helmut Schmidt und Helmut Kohl bis zu Olaf Scholz.

„Keiner der Akteure führte zu neuem Judenhass, aber doch waren sie alle Etappen der Radikalisierung und der Etablierung eines neuen Judenhasses“, sagte Wolffsohn. Zwar sei die Existenz des Staates Israels deutsche Staatsraison, aber immer wieder ließen führende deutsche Politiker entsprechendes Handeln auch vermissen. Sei es, dass der damalige Bundeskanzler Willy Brandt 1970 davon sprach, Israelpolitik künftig „ohne Komplexe“ zu führen, oder Helmut Kohls Regierungssprecher später in Saudi-Arabien sagte, deutsche Außenpolitik dürfe nicht von der Geschichte überschattet werden.

Hinzu kommt importierter Antisemitismus aus der muslimischen Welt

Dazu kommt nach Überzeugung Wolffsohns ein importierter Antisemitismus aus der muslimischen Welt, der sich nach dem Terroranschlag der Hamas in Israel nicht nur auf Berlins Straßen Bahn breche. Das sei auch das Ergebnis einer naiven Migrationspolitik von Kanzlerin Angela Merkel (CDU) in den Jahren 2015 und 2016 – aber auch Ausdruck einer historischen Kontinuität deutscher und palästinensicher Kooperationen und Kolaborationen, bei denen nicht oder nicht ausreichend auf antisemitische Signale reagiert worden sei.

Zuvor hatten Parlamentspräsidentin Cornelia Seibeld und der Regierende Bürgermeister Kai Wegner (CDU) der Opfer der „Reichskristallnacht“ vor 85 Jahren gedacht. Die Ereignisse rund um die Pogromnacht seien Ausdruck kollektiven menschlichen Versagens, sagte Wegner. Die wenigsten Berlinerinnen und Berliner seien eingeschritten, als das Morden, Plündern und Verschleppen am 9. und 10. November 1938 stattfanden.

An der Gedenkstunde am 16. November 2023 nahmen auch Berlins Ehrenbürgerin, die 102-jährige Margot Friedländer, und eine Delegation von Eltern und Angehörigen von Kindern teil, die am 7. Oktober von palästinensischen Terroristen entführt worden sind.

(Zusammenfassung der Rede: Berliner Morgenpost)

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