Kann eine Bombe Mensch sein?

Selbstaufopferung und Selbstanmaßung göttlicher Macht: Worin der fundamentale Unterschied zwischen den von den Dschihadisten als Märtyer verherrlichten Attentätern und den Märtyrern des Judentums und des Christentums besteht.

Essay von Michael Wolffsohn in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung vom 18. Juli 2016, Seite 8, Die Gegenwart.

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Der Essay im Wortlaut:

Märtyrer sind seit jeher eine politische Waffe. Sie kann entweder defensiv oder offensiv sein. Beide Varianten gab und gibt es.

Islamische Selbstmordattentäter verstehen und präsentieren sich als Märtyrer. Sie meinen und hoffen, direkt ins Paradies zu gelangen, wo sie seelische sowie körperliche Genüsse und 72 Jungfrauen erwarten.

Islamisten, Juden und Christen benutzen (in unterschiedlichen Sprachen) den gleichen Begriff, verbinden mit ihm allerdings ganz und gar Unterschiedliches.

Ein Märtyrer ist für Juden und Christen jemand, der sich selbst für seinen Glauben, für seinen Gott, opfert. Sich selbst opfert - und keine anderen dabei tötet oder ermordet. Für Juden und Christen personifizieren Märtyrer das rein defensive Leid. Als Objekt erleiden sie den Tod. Ihr Tod ist unfreiwillig, sie haben ihn nicht selbst gewählt.

Theologisch vereinfacht entspricht ihr Tod „Gottes unergründlichem Ratschluss“. Ihrem Verständnis zufolge ist allein Gott Herr über Leben und Tod. Nicht der Mensch. So gesehen, sind die Mörder dieser Märtyrer Instrumente Gottes. Keiner weiß weshalb Gott diese ungeheure Ungerechtigkeit zulässt, jeder stellt die Menschheitsfrage nach der Gottesgerechtigkeit bzw. Theodizee.

Ganz anders die heutigen islamischen Selbstmordattentäter. Ihr Märtyrertum ist offensiv. Sie sind das handelnde, andere Menschen ermordende Subjekt. Freiwillig erfolgt ihr eigener Tod als Tor ins von ihnen erwartete himmlisch genussvolle Paradies. Theologisch betrachtet gleicht dieses Märtyrertum islamischer Selbstmordattentäter in doppelter Hinsicht Ketzerei. Ob Muslim oder nicht, beim Selbstmordattentat stilisiert sich der Mensch bzw. ein Mensch zum Gott. Ein Mensch macht sich als selbsternannter Gott zum Herren über Leben und Tod anderer Menschen. Er, nicht Gott, vernichtet fremdes Leben und das eigene. Ausgehend von den Grundannahmen des Judentums, Christentums und, ja, auch des Islam, also fundamentaltheologisch gedacht, ist das nichts anderes als Ketzerei, denn letztlich wagt es ein Mensch, Gott „Nachhilfe“ zu geben. Areligiöse glauben nicht an die absolute Herrschaft Gottes, Orthodoxe, gleich welcher Religion, sehr wohl. Nicht zuletzt islamische Selbstmordattentäter behaupten das von sich. Sie handeln dagegen. Wenn das keine Gotteslästerung ist, was dann?

Es ließen sich mühelos Koranstellen und andere Zitate aus heiligen Islamschriften zitieren, die belegen, dass die Ungläubigen (wer immer sie definiert werden) bekämpft und getötet werden müssen – aber aus der Defensive. Haben Die in Nizza am 14. Juli 2016 Feiernden oder Pariser Konzertbesucher und Einkäufer in einem jüdischen Supermarkt die „Gläubigen“ angegriffen? Gar Passagiere auf dem Flughafen oder in der Metro Brüssels?

Es bleibt dabei: Rein theologisch maßen sich hier Menschen an, Gott nachzuhelfen. Das wiederum ist keine Theologie, denn es entspricht nicht, und sei der Wichtigkeit wegen wiederholt, dem "Geist Gottes" im Sinne des Ur-Axioms von Islam, Christentum und Judentum: Allein Gott ist Herr über Leben und Tod.

Wenn Selbstmordattentate nicht Sinn und Ziel der Religionen entsprechen, stellt sich die Frage wozu sie dann dienen.  Meine These lautet: Sie sind Teil einer politisch-militärischen Strategie. Diese These muss begründet werden. Doch zuvor sei das dominant-jüdische und -christliche Verständnis von Märtyrern ergänzend beschrieben.

Die Personifizierung eines jüdischen Märtyrers ist Rabbi Akiba (50/55 – 135 u.Z). Während des Jüdischen Aufstands gegen die römische Weltmacht in den Jahren 132 bis 135 war es den Juden verboten, die ihnen heilige Thora zu lehren. Rabbi Akiba missachtete das Verbot. Im Babylonischen Talmud (Traktat Berachot 61a) lesen wir: Da kam Papos der Sohn Judas und traf Akiba wie er öffentliche Versammlungen abhielt und sich mit der Thora befasste. Da sprach er zu ihm: Fürchtest Du Dich denn nicht vor der ruchlosen (römischen) Regierung? Er lehrte weiter, wurde gefasst, gefangen und zum Tode verurteilt. Die Stunde, da man Rabbi Akiba zur Hinrichtung führte, war gerade die Zeit des Schemalesens („Höre Israel, der Ewige unser Gott, der Ewige ist einzig…du sollst ihn mit deinem ganzen Herzen und deiner ganzen Seele lieben“). Man riss Rabbi Akibas Fleisch mit eisernen Kämmen. Er aber nahm das Joch der himmlischen Herrschaft auf sich. Seine Schüler sprachen zu ihm: Meister, so weit? Er erwiderte ihnen: Mein ganzes Leben grämte ich mich über den Schriftvers (aus dem „Höre Israel“) „mit deiner ganzen Seele“, sogar wenn er deine Seele nimmt, indem ich dachte: wann bietet sich mir die Gelegenheit, und ich will es erfüllen, und jetzt, wo sie sich mir darbietet, sollte ich es nicht erfüllen? Er dehnte so lange das Wort "einzig", bis ihm die Seele bei "einzig" ausging. Da ertönte eine Hallstimme (stets sozusagen die Oberste himmlische Instanz) und sprach: Heil dir, Rabbi Akiba, dass deine Seele bei einzig ausging.

Unreflektiert und unwidersprochen blieb diese Lobpreisung nicht. Die Talmudischen Weisen empfanden das ethische Dilemma deutlich. Sie erfanden daher die folgende Geschichte, die an gleich Stelle zu finden ist: „Die Dienstengel sprachen vor dem Heiligen, gepriesen sei er: Ist das die Thora und das ihre Belohnung?“ Gott antwortet mit einem unbefriedigenden Bibelzitat: „Ihr Anteil ist im Leben.“ Und, wie so oft, wenn in den kommentierenden rabbinischen Geschichten („Midraschim“) selbst Gottes Antwort unbefriedigend ist, „ertönte eine Hallstimme“. Sie entscheidet, ihr ist nicht zu widersprechen. Hier sprach und bekräftigte sie: „Heil dir, Rabbi Akiba. Du bist für das Leben der zukünftigen Welt bestimmt.“ Keine Begründung. Basta. Der Begriff „zukünftige Welt“ kommt dem im Hebräischen nicht vorhandenen „Paradies“ (nur als „Garten Eden“ bezeichnet) am nächsten.

Rabbi Akiba war Märtyrer. Das wird von den Talmudisten gepriesen. Trotzdem bezweifeln sie die Sinnhaftigkeit des Martyriums. Deshalb erzählen sie die Zweifel der anderen Rabbiner, der gelehrten Schüler Akibas, und sogar der Engelsversammlung. Auch Gottes Versprechen der zukünftigen Welt klingt eher karg und langweilig keusch, wenn man an islamische Ausschmückungen des Paradieses mit oder ohne 72 Jungfrauen denkt.

Den Tod gleich welcher Art bejubeln die Talmudisten in keiner Weise. Dabei wagen sie sogar Widerspruch zur Thora, dem heiligsten Teil der Hebräischen Bibel. Sie deuten sie fundamental um – zugunsten des Lebens, selbst des feindlichen Lebens.

Die Kinder Israels fliehen aus Ägypten. Das Heer der Ägypter verfolgt sie. Sie durchschreiten unter Moses´ Führung das ihnen von Gott geöffnete Rote Meer. Es schließt sich wieder. Die Ägypter ertrinken. Moses und die anderen geretteten Juden feiern und lobpreisen Gott.

Diese Geschichte kommentieren die Talmudisten auf ihre nicht nur in diesem Zusammenhang geradezu rebellische Weise. Gott fragt die Himmlische Versammlung wie sie jenes Geschehen bewerte. Alle sind begeistert und loben den Herren ob seiner Entscheidung, die ägyptischen Verfolger Israels in den Meeresfluten zu ertränken. Gott widerspricht. Wie könne er jubeln, wenn seine Geschöpfe sterben? Das ist Text-Evolution als Revolution.

Die Talmudisten stellen die Thora-Ethik nicht nur hier vom Kopf auf die Füße. Beides geschieht im Namen Gottes. Freilich bedeutet die talmudische Weitentwicklung der ursprünglichen Ethik, wie gesagt, eine Revolution. Um sie nicht als solche sichtbar zu machen, berufen sich die Talmudisten auf dieselbe, völlig unveränderte biblische Geschichte. Kein Komma wird geändert, wohl aber ihr Geist. Statt Jubel über den Tod der Feinde Mitleid und Trauer. Aus dem Feind, dem Unmenschen, wird ein Mensch, Mitmensch und schließlich der Nächste, den man lieben solle „wie sich selbst“ (Leviticus 19, 18). Das zunächst alttestamentliche „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“ wird später zentral in Jesus´ Bergpredigt neutestamentlich aufgegriffen. Diese oder eine funktional und ethisch vergleichbare talmudische oder jesuanisch-christliche Evolution und Revolution fehlt im Islam. Von den Selbstmordattentätern ganz zu schweigen.

Womit wir – neben anderen und späteren – bei dem christlichen Märtyrer schlechthin wären. Bei Jesus, dem, aus christlicher Sicht, „Christus“, also dem Heiland bzw. Messias.

Anders als beim Propheten des Schwertes, Mohammed, ist Jesus´ Lehre und Leben gewaltlos und ihrer Gewaltlosigkeit wegen für Jesus am Ende tödlich. Doch die christliche Heilsgeschichte formt gerade Jesus´ Tod sowie das damalige Schandzeichen des Kreuzes – wie die Talmudisten, also in bester jüdischer Tradition - revolutionär um. Es folgt der Triumph der Auferstehung. Die Botschaft ist eindeutig: Nicht Gewalt siegt, sondern Gewaltlosigkeit.

In der Kirchengeschichte haben gar manche Christen - nicht nur Päpste und nicht nur Katholiken – dem „Lieben Gott“ bei weltlichen Macht-Triumphen nachgeholfen. Das war – machen wir uns nichts vor – fundamentaltheologisch auch nichts anderes als Ketzerei. Wer Gott als Mensch nachhilft, ist strikt religiös betrachtet, Ketzer. Ob Christ, Jude oder Moslem.

Dennoch: Urchristentum und Judentum, besser: Frühchristen und Juden schöpften gerade aus der Kraft-, Macht- und Gewaltlosigkeit ihre Kraft und Machtmöglichkeit.  Erst Kreuzigung, dann Jesus´ Auferstehung. Erst Roms Verfolgung der urchristlichen Mini-Gemeinschaft, dann allmächtige römische Staatsreligion (die dann bekanntlich auch Unchristliches vollbrachte). Trotz (oder wegen?) ständiger Verfolgungen entwickelten Juden überlebenswichtige Hochleistungsstrukturen besonders im Bildungsbereich und auf diese Weise herausragende kulturelle sowie wirtschaftliche Erfolge.

Letztlich wird  sowohl in der aufgeklärten jüdischen und christlichen „Theologie nach Auschwitz“ die 1948 erfolgte Gründung des Jüdischen Staates, Israel, als eine Art Auferstehung interpretiert. In den (Wahn-)Vorstellungen so mancher Zeitgenossen gilt Israel als regionale Übermacht, manchen gar als „Weltmacht“. Selbst dieser Irrsinn hat im Kern einen theologischen Sinn: Nach und trotz dem sechsmillionenfachen Judenmorden, also nach und wegen seiner absoluten Machtlosigkeit, wäre das Jüdische Volk als Staat und in seinem Staat wiederauferstanden. Das schlechte Gewissen der Außenwelt hätte das Mitleid für und die (zeitweilige) Beliebtheit von Juden und Zionismus ausgelöst, zur Staatsgründung und schließlich zur „Machtfülle“ Israels geführt.

Es wäre in ihrem eigenen Interesse sinnvoll, wenn sich die Islamische Welt auch in diesem Zusammenhang fragt, wie man aus Kraftlosigkeit und eben nicht aus Mord und Todschlag Kraft schöpft, Beliebtheit und letztlich dadurch Macht gewinnt. Könnte, sollte dieses Entwicklungsmuster, diese Evolution, von der Machtlosigkeit zur Machtmöglichkeit und Macht nicht für den terroristischen Islam Inspiration sein, statt einer Bombenexplosion die nächste folgen zu lassen?

Für die Macht und Kraft der Gewaltlosigkeit gibt es auch rein politische Vorbilder. Das Vorbild schlechthin ist Mahatma Gandhi. Die damalige Kolonial- und Weltmacht Großbritannien zwang er durch angewandte Gewaltlosigkeit in die Knie. Intern war seine Methode nicht unumstritten, doch nicht die gewaltdürstigen Heißsporne, sondern der Gewaltlose Gandhi ebnete den Weg zur Unabhängigkeit Indiens. Strategisch, langfristig, historisch endet Terror im Nirwana, ohne je das strategische Ziel zu erreichen. Er verbreitet Schrecken, ist schrecklich und zugleich sinnlos.

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Selbstmörderische Djihadisten, Selbstmordattentäter, sind also Ketzer. Sie sind, wie wir sahen, auch eine politische und psychologische Waffe. Sind sie, erneut fundamentaltheologisch gefragt, noch Menschen? Diese Frage stellte mir mehrfach mein 2014 verstorbener Freund Eugen Biser, der bedeutende katholische Fundamentaltheologe und Priester. Er war ein Mann des Friedens und absoluter Gewaltlosigkeit, ein wahrhaft jesuanischer Christ.

Eugen Biser beantwortete die selbstgestellte Frage eindeutig. Fundamentalethisch betrachtet, könne ein Mensch nicht zugleich Mensch und Bombe sein. Indem sich ein Mensch freiwillig in eine Bombe verwandele, entziehe er sich dem Menschsein und entäußere sich der Menschenrechte. Er sei deshalb fundamentalethisch als Materie und nicht als Mensch zu behandeln. Daraus folge zwingend, dass eine Bombe nicht, wie der Mensch, Ebenbild Gottes sein könne.

Obwohl gewaltlos ist dieser Gedankengang Eugen Bisers gewaltig furchterregend. Diese Logik des durch und durch friedensethischen Himmelsmannes scheint höllisch. Sie ist wehrhaft, aber defensiv.

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Auch Zynismus und analytische Herzenskälte sprechen für einen Strategiewechsel der islamisch motivierten, selbstmörderischen Mörder, die meinen, durch Menschenbomben „die“ christlich-jüdische, westliche Welt aus der Welt bomben zu können. Das ist ebenso vermessen wie unrealistisch.

Die islamischen Selbstmordkiller greifen, wie alle Terroristen, die Zivilbevölkerung ihres Feindes an. Militärisch konventionell betrachtet sind Terroristen an sich den jeweils angegriffenen Staaten gegenüber wehrlos. Psychologisch und operativ sind sie ihnen jedoch haushoch überlegen. Sie bestimmen Ort und Zeitpunkt, an denen sie zuschlagen. Sie verunsichern ihren Feind. Sie können ihn zwar nicht besiegen, aber völlig verunsichern, indem sie durch höchst schmerzhafte Nadelstiche die Alltäglichkeit seines Alltags unkalkulierbar und damit eben nicht alltäglich machen. Zudem zahlt ihr Feind, also wir, einen hohen Preis. Menschen werden ermordet, und es entsteht erheblicher wirtschaftlicher Schaden. Auf diese Weise sollen wir politisch gefügig gemacht werden und die Forderungen der Terroristen erfüllen. Trotz zunächst markig wehrhafter Worte der Angegriffenen ist erfahrungsgemäß ein immer größer werdender Teil ihrer Zivilbevölkerung bereit, sich mit dem Aggressor zu identifizieren und dessen Verlangen nachzugeben.

Ähnlich funktioniert das politisch-psychologisch erfolgreiche, oft siegreiche, Vorgehen von Guerillakämpfern. Diese greifen, meist als Zivilisten getarnt, das Militär ihres Feindes an. Das Militär ist verunsichert, denn zunächst schießt kein Soldat hemmungslos auf Zivilisten. Das ist der erste psychologische Pluspunkt des Guerilla. Der Zweite: Schießt der Soldat auf den Zivilisten und tötet ihn, ist der getötete Guerillakämpfer, weil dem Scheine nach Zivilist, Märtyrer. Den Tod ihrer Kämpfer als Selbstmordsoldaten nimmt die Guerilla-Strategie bewusst in Kauf. Man sehe ja: Da liege der tote „Zivilist“, dort stehe der Soldat als Mörder. Gewiss, der Schein trügt, aber seine politisch-psychologische Wirkung ist gewaltig, denn durch Bild und Wort wird der Schein als Sein, also als Wirklichkeit, wahrgenommen. Je mehr „Märtyrer“ Guerillakämpfer haben, desto massiver und erfolgreicher ihre psychologische Kriegsführung. Sowohl in den eigenen Reihen als auch beim Feind, denn der und dessen Gesellschaftsmehrheit reagiert reflexhaft menschlich: Auf Zivilisten schießt man nicht. Die zynische Strategie der Guerilla nutzt Menschlichkeit für die eigene Unmenschlichkeit.

Gilt diese Analyse auch für kollektiven Selbstmord etwa von Sekten oder zum Beispiel die jüdischen Verteidiger der antiken Festung Massada am Toten Meer. Sie, ihre Frauen und Kinder begingen im Jahre 73 uZ kollektiven Selbstmord, um sich nicht von den siegreichen Römern versklaven zu lassen. Im Mittelalter, vor allem während des Ersten Kreuzzugs, zogen es Juden an Rhein, Main und Mosel vor, ihre Angehörigen und dann sich selbst umzubringen, um nicht zwangsgetauft zu werden. Ob das Martyrium der Frauen und Kinder, auch vieler Männer, wirklich freiwillig war, sei dahingestellt. Jedenfalls ist es die defensive Variante des Märtyrertums.

Zynisch oder nicht, so wirkt es, so soll es wirken, und so hat es in der Regel gewirkt. Es löst im überlebenden Teil der Gemeinschaft Überlebensschuld aus und ermahnt die Nachfahren, dass Tod der Taufe vorzuziehen sei. Man werde den Toten gegenüber schuldig, wenn man sich doch taufen lasse, „nur“ um weiter leben zu können. Nachahmung wird auf diese Weise programmiert. Dieses defensive Märtyrertum stärkt und schließt die eigenen Reihen. Wer sich entzieht, hat ein schlechtes Gewissen oder wird zumindest durch Ächtung und gesellschaftliche Isolation bestraft. Das ist die negativ kritische Seite.

Auch eine positive wäre zu erwähnen. Der Tod dieser Märtyrer führt ihrer Gemein- und Nachkommenschaft einen lebenswerten Gegenentwurf vor Augen. Sie sterben, damit andere gut, im Sinne von menschenwürdig und ethisch, leben können. Diese Feststellung gilt bezogen auf Rabbi Akiba, die jüdischen Kreuzzugs-Märytrer und selbstverständlich für Jesus. Ihr Tod ist Zeichen fürs Leben. Diese defensive Variante ist ethisch Lichtjahre von der offensiven der islamischen Selbstmordattentäter entfernt, denn diese bekämpfen den Feind, jene richten sich selbst, kollektiv und individuell.

Auch offensives Märtyrertum Einzelner oder von Gruppen bindet die Überlebenden und Nachfahren an die Gemeinschaft der Märtyrer. Es sichert ebenfalls das Überleben des Kollektivs. Doch eben nur ein Überleben, das anderen Tod bringt. Dem Siegesjubel über den Tod des Feindes folgt unwillkürlich der Katzenjammer über das eigene Sein und Dasein, das durch den Mord am vermeintlichen Feind keinen Deut besser wird, nur schlechter. Denn selbst der langmütigste Feind schlägt irgendwann wie auch immer zurück, selbst wenn er sich vorher mit dem Aggressor identifizierte. Wenn es um Sein oder Nichtsein geht, entscheiden sich auch der Weichsten für Wehrhaftigkeit.

Vermeintliche und tatsächliche Mörder, individuelle und erst recht kollektive, bleiben stigmatisiert. „Die“ Juden haben zwar Jesus definitiv nicht dem Kreuz überantwortet, „die“ Juden waren und sind also kein „Gottesmörder-Volk“. Als solches galten sie allerdings rund zweitausend Jahre lang. Manch einer sieht das noch heute so. Mit Deutschland und „den“ Deutschen assoziieren Millionen nicht nur Goethe, Schiller und Weimar, Dichter und Denker, sondern Mörder, Henker und Auschwitz. Es ist zu erwarten, wenngleich zu verurteilen, dass „der“ Islam und „die“ Muslime durch islamische Selbstmordattentäter und Serienmörder auf ähnliche Weise stigmatisiert werden. Hitler war (abgesehen von seinem Geburtsland) Deutscher, aber nicht alle Deutschen Nazis. Vor allem Muslime sind derzeit Terroristen, aber eben nicht alle Muslime Terroristen. Wie jedes Kollektiv wird die Mehrheit der Unschuldigen durch die Minderheit der Schuldigen stigmatisiert. Auch so gesehen, zeigen die offensiven Islam-Märtyrer ihrer, der islamischen, Gemeinschaft nur Tödliches, Unheil Bringendes. Für jeden wie auch immer definierten Sieg bedarf es eines menschenwürdigen Lebensentwurfs, keiner Todesexpertise. Menschlichkeit, Lebensverstand und Überlebensstrategien sind gefragt.

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