Nur Verzicht macht den Weg zur Versöhnung frei

Er empfiehlt jenen Nachgeborenen, denen es gutgeht, in der dritten Generation, auf das einst Geraubte und bisher nicht erstattete Familieneigentum zu verzichten, weil dieser Verzicht den Weg zur Versöhnung, zum Frieden frei machen könnte. Die FAZ zum 70. Geburtstag.

Nur Verzicht macht den Weg zur Versöhnung frei
Alltagstauglich ohne Bindestrich: Zu seinem Siebzigsten schreibt der Historiker Michael Wolffsohn die Geschichte seiner Familie

Als Michael Wolffsohn heute vor siebzig Jahren in Tel Aviv geboren wurde, gab es noch kein Israel, das wurde erst ein Jahr später gegründet. Seine Muttersprache blieb Deutsch, was damals auch unter deutschen Emigranten unüblich war. Sie waren Israelis, ein Teil sogar revolutionäre Zionisten, und konnten von Deutschland doch nicht lassen. Schon 1949 zieht der Großvater Karl, der "Über-Wolffsohn", nach Berlin zurück. "Von Berlin nach Israel und trotz allem zurück nach Berlin", so steht es auf seinem Grab. Ein Großbürger, der ein Firmenimperium aufgebaut hatte, enteignet und ins Exil getrieben wurde und an der beschämenden Prozedur, an den zu oft verlorenen "Rückerstattungskriegen" zerbrach, die sein Enkel Michael akribisch recherchiert und (für den Leser oft schockierend) im Buch dokumentiert.

Der Filmpionier Karl Wolffsohn hatte seit den zwanziger Jahren eines der größten Archive der Filmwissenschaft aufgebaut, besaß Großkinos nicht nur in Berlin, betrieb mit Partnern die größten Varietés. Das Grundstück der im Krieg zerbombten Scala wurde in den Sechzigern, obwohl der "Eigentümerwechsel" mit dem Jahr 1933 unmissverständlich war, an Ignatz Bubis verkauft. Unfein, finden die Wolffsohns noch immer. Die jüdische Welt, daran lässt der Autor keinen Zweifel, die noch Eltern und Großeltern prägte, sie ist unwiederbringlich untergegangen. In die Jetztzeit haben Karl und Max Wolffsohns Erben ihre Unternehmensphilosophie gerettet, die sich heute in der großartig sanierten Gartenstadt Atlantic in Berlin-Gesundbrunnen zeigt. Bezahlbare gute Wohnungen und gute Unterhaltung, das waren die Motive der Erbauer dieses Ensembles der Architekturmoderne. Zwar hatte die Gartenstadt durch ihre Lage gleich hinter der Mauer im Westen gelitten, war ihr Zustand so prekär wie die Lebensverhältnisse der meisten Mieter. Aber sie nahmen das Erbe an, bauten auf und aus, mit Kita und Lernwerkstätten, und verzichteten gleichzeitig faktisch auf ein Vermögen, auch auf noch ausstehendes Raubgut. Dass diese jüdisch-mäzenatische Geste kaum wahrgenommen wurde, ihnen stattdessen zuweilen Misstrauen entgegenschlug, hat sie enttäuscht, aber nicht verbittert.

Michael Wolffsohn, der Enkel, der diese fulminante Familiengeschichte aufschreibt, sie ins Große, in die Welt, vor allem in zwei Jahrtausende jüdische Weltgeschichte einordnet, will nicht nur Lebenswege beschreiben. Es geht ihm um das jüdische Selbstverständnis nach dem Krieg, in Israel und in Deutschland, um das Kollektiv, in das man hineingeboren wird und das zu verlassen jedem freisteht, nur ganz entkommen wird er ihm nicht, wie Wolffsohn beharrt. Der Historiker sucht sich auch für dieses Projekt seinen gewohnten Platz, zwischen den wohlgeordneten Stuhlreihen, die "Geschichtspolitiker" einem wie ihm gern zugewiesen hätten. Hier schreibt ein streitbarer Geist, ein Querdenker, der gern gepflegte Klischees mit zuweilen bissigem Humor seziert, der Grauzonen ausleuchtet und vermeintliche Moralität gewohnt scharf geißelt. Die einen bewundern ihn dafür schon immer, andere lehnen ihn umso heftiger ab. Er kann mit Funktionären wenig anfangen, auch nicht mit jüdischen, was irgendwann darin gipfelte, dass ihm ein berühmter Mann das Jüdischsein aberkannte. Dass so etwas nicht möglich ist und warum, auch davon erzählt er in diesem Buch mit hinreißenden Geschichten und verblüffenden Schlussfolgerungen.

Die Rechtsradikalen werden ihn noch weniger mögen, das Vorurteil sitzt und hat ihn immer wieder Hassattacken ausgesetzt, auch weil er Jahrzehnte an der Bundeswehruniversität lehrte und Denken und Fühlen deutscher Offiziere "verseucht" haben soll. Von links wiederum wurde ihm immer wieder unterstellt, er verbreite den "aggressiven, imperialistischen, zionistisch-israelischen Terrorgeist". Man fand es verdächtig, dass er und seine Familie die Opferrolle verweigerten, dass er nach Schuld, Umkehr und Sühne Versöhnung für ein erstrebenswertes Ziel hält. Das sei nur zu erreichen, wenn die selbstzugeschriebenen, fragwürdigen Rollen von Opfern und Tätern unter den Nachgeborenen endlich aufgegeben
würden, schreibt er. Das Ächten der Mörder und Räuber gehört für Wolffsohn dazu, wie ein "Kainsmal" sollen Gedenktafeln und Gedenkorte für immer daran erinnern, was geschah.

Zum Schluss formuliert er noch einmal, was ihm schon viel Ärger eingebracht hat: Er empfiehlt jenen Nachgeborenen, denen es gutgeht, in der dritten Generation, auf das einst Geraubte und bisher nicht erstattete Familieneigentum zu verzichten, weil dieser Verzicht den Weg zur Versöhnung, zum Frieden frei machen könnte. Das neu nach der Katastrophe entstandene Judentum müsse alltagstauglich werden, sagt Michael Wolffsohn. Zum ersten Mal seit Jahrtausenden hätten Juden hier die Chance, gemeinsam mit Nichtjuden eine offene Gesellschaft zu gestalten, die auch deutschjüdisch ist, ohne Bindestrich, wie er mit dem Buchtitel betont.

Regina Mönch

Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 17.05.2017

 

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