Wir Juden fühlen uns unsicherer

Der Antisemitismus in Deutschland hat dramatisch zugenommen – fühlbar, spürbar.

Ijoma Mangold schreibt am 14. November 2019 in der ZEIT:

Der World Jewish Congress hat eine Studie über Antisemitismus in Deutschland in Auftrag gegeben, die vor einigen Wochen veröffentlicht wurde. 1.300 Deutsche wurden befragt. Laut dieser Studie sind 27 Prozent der Deutschen Antisemiten. 41 Prozent finden, dass Juden zu viel über den Holocaust sprächen, und 26 Prozent der deutschen Eliten, definiert als Hochschulabsolventen mit einem Jahreseinkommen von mehr als 100.000 Euro, sind der Ansicht, dass Juden zu viel Macht in der Weltpolitik hätten.

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Staat Israel ist die Lebensversicherung für Juden

Michael Wolffsohn, Historiker, 1947 in Tel Aviv geboren, kam 1954 mit seinen Eltern nach Deutschland, aus dem die Familie 1939 im letzten Moment noch hatte fliehen können. Bei Wolffsohn kann man sich immer darauf verlassen, dass seine pointierten Ansichten quer zu wirklich allen Erwartungshaltungen stehen. "Methodisch habe ich da meine Zweifel, aber die Studie kommt gleichwohl zum richtigen Ergebnis", sagt er. Er hat sich vorbereitet und geht nun die Fragen der Studie Punkt für Punkt durch. 40 Prozent seien also der Meinung, Juden seien überrepräsentiert in den Medien? "Das ist doch kein Indikator für Antisemitismus. Natürlich entspricht die Zahl von Juden in den Medien nicht proportional den 0,2 Prozent Juden an der deutschen Gesamtbevölkerung." Das habe historisch-soziologische Gründe, weil die jüdische Kultur immer eine des Wortes gewesen sei. "Wir sind besser gebildet als der Durchschnitt, und die besser Gebildeten partizipieren mehr am öffentlichen Leben. So werden Juden häufiger in den Medien befragt als irgendein armer Goi."

Auch dass 48 Prozent der Ansicht sind, Juden seien loyaler gegenüber Israel als gegenüber Deutschland, finde er unproblematisch. Natürlich sei Israel für viele Juden weltweit eine Art Lebensversicherung. Das führe zu doppelten Loyalitäten, aber das sei eigentlich eine moderne Haltung. "Nur die vorgestrigen Treitschkes dieser Welt regen sich darüber auf." (Der nationalliberale Historiker und Antisemit Treitschke hatte den Juden im Kaiserreich unter anderem mangelnde Loyalität zu Deutschland vorgeworfen. Seine berüchtigte Formulierung: "Die Juden sind unser Unglück".)

"Ob die Befragten Juden kennen, wird dann gefragt. Natürlich nicht, die paar Hanseln. Aber dann schalten sie den Fernseher ein, und da quatscht schon wieder der Wolffsohn."

Die Schirmmütze mit Davidstern bleibt zu Hause

Ernst und Flapsigkeit wechseln sich bei Wolffsohn schnell ab. Dessen ungeachtet, fährt er fort, sei es für ihn völlig klar, dass der Antisemitismus dramatisch zugenommen habe, "fühlbar, spürbar". 27 Prozent der Deutschen stufe die Studie als antisemitisch ein, bei früheren Umfragen habe die Zahl immer zwischen 15 und 20 Prozent gelegen. Das sei zwar kein signifikanter Anstieg, "aber wir Juden fühlen uns unsicherer". Seine Mutter habe ihm einmal eine Schirmmütze mit Davidstern aus Israel mitgebracht: "Natürlich gehe ich damit nicht auf die Straße. Dafür passiert zu viel. 99 Prozent, die auf der Straße an mir vorbeigehen, werden nichts machen, sondern im Gegenteil sogar eher freundlich zu mir sein, aber das Risiko ist da."

Und die Gefahr drohe nicht nur von Rechts- oder Linksextremisten, sondern vor allem auch von Muslimen. Da dürfe man sich nichts vormachen, sagt Wolffsohn, dessen Lichtburg Stiftung in Berlin-Wedding höchst erfolgreich Bildungs- und Integrationsprojekte auf die Beine stellt. Umgekehrt, merkt Wolffsohn gallig an, dürften wir auch nicht vergessen, dass noch unbeliebter als Juden die Migranten, besonders muslimische, seien: "Everybody hates somebody sometimes."

Auszug aus dem Artikel "Wir Juden fühlen uns unsicherer" im Feuilleton der ZEIT, Seite 56. Der Beitrag ist bisher nicht online verfügbar.

 

 

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