Lese-Empfehlungen

An dieser Stelle empfiehlt Michael Wolffsohn in loser Folge Bücher, die ihn inspiriert haben.

Caroline Fetscher: Tröstliche Tropen, Albert Schweitzer, Lambarene und die Westdeutschen nach 1945

Selten las ich ein Sachbuch, dessen Erkenntnisinteresse auf den ersten Blick so abwegig erscheint und bei der Lektüre immer spannender und überzeugender wird. „Imaginär nahm der ‚Urwalddoktor’ das Leiden eines jeden noch im tiefsten Dschungel wahr, auch im Dschungel der deutschen Ruinen, und wurde so für eine Weile zur unhinterfragbaren Instanz“. Fetscher will die Ikone Schweitzer „weder verurteilen noch exkulpieren“ – und hat atemberaubend aufschlussreiches Material über Albert Schweitzer, die vielen jüdischen Ärzte von Lambarene, (mir völlig unbekannte) Reaktionen von Afrikanern und nicht zuletzt die vielen Schweitzer-Projektionen von Westdeutschen zusammengetragen sowie klug und vielschichtig kommentiert.

Maxim Biller: Mama Odessa

Ein ganz anderer Biller und doch derselbe. Eine posthume Liebeserklärung an seine Mutter. Über die „Jüdische Mame“ wurde viel geschrieben. Meistens mit Haha-Witzchen oder unerträglichem Schmalz. Ganz anders Maxim Billers „Mama Odessa“.  Es ist ein wunderbares, liebevolles, zauberhaftes, kluges, nie sentimentales, gar schmalziges, doch wirklich bewegendes und nicht zuletzt selbstironisches Buch. Wie viel Fiktion oder Fakten, ist absolut zweitrangig. Messerschafe Beobachtungen seine jüdische und nichtjüdische Umwelt bereichern dieses verzaubernde und zauberhafte Buch.

28. August 2023


Abdel-Hakim Ourghi: Die Juden im Koran –  Ein Zerrbild mit fatalen Folgen

Für alle, die irrtümlich denken, die islamisch-jüdische Konfrontation sei durch Zionismus und Israel ausgelöst worden, Pflichtlektüre. Der liberale muslimische Gelehrte Ourghi zeigt, dass bereits der Koran zahlreiche antijüdische Polemiken beinhaltet. Das ist bezüglich der Entstehungsgeschichte von Religionen nichts spezifisch Islamisches. Bereits das frühe Christentum polemisierte gegen Juden und Judentum, seit es die Trennung vom Judentum vollzogen hatte. Ourghis Studie zeigt die islamische Entstehungsgeschichte der Rivalität.

Der Autor hat, sekundiert von Michael Wolffsohn, sein Buch im Juni 2023 im Presseclub München vorgestellt.

14. Juni 2023


Walerjan Pidmohylnyi: Die Stadt

Kiew Mitte der 1920er Jahre. Ein grandioser Stadtroman. Protagonist dieses Romans ist ein Egozentriker, der aus einem Dorf in die Großstadt kommt, Karrierist wird, wörtlich über Leichen geht, wie ein Apparat funktioniert, ab und zu Gewissensbisse und Selbstzweifel hat, aber eben doch rücksichtsloser Brutalo bleibt, den Menschen in sich und anderen sucht, doch nie wirklich finden will. Großartige Reflexionen des Autors über Menschen, das Leben, Lieben, die Stadt, Land und Natur. Erschienen im Guggolz Verlag, Berlin 2022, 26 €.


Regina Stürickow: »Der Insulaner verliert die Ruhe nicht« — Berlins legendäres Kabarett der Nachkriegszeit

Längst ist bei uns Politisches Kabarett eine Nischenphänomen. Andere Zeiten, andere Rahmenbedingungen. Von 1948 bis in die frühen 1960er Jahre war das in Berlin – aus dem Westen, für den Westen UND Osten – ganz anders. „Die Insulaner“ waren damals über das gute alte „Dampfradio“ ein Massenerlebnis. Andächtig saß man davor, alle wollten und mussten zuhören, keiner wollte dazwischenreden. Warum? Das beschreibt dieses Buch aus dem Elsengold-Verlag, Berlin 2022, 24 €. Nicht West-Berlin-Nostalgikern sei es empfohlen.

19. Januar 2023


Norbert Kron: Der Mann, der E.T.A. Hoffmann erfand: Roman einer Freundschaft

Norbert Krons geradezu poetischen Roman über den Romantiker E.T.A. Hoffmann und seinen zum Christentum konvertierten jüdischen Freund Eduard Hitzig (geb. Itzig) habe ich gerade ausgelesen.

Das Buch ist eine Art Doppelbiografie über zwei eng befreundete Männer, ihre Familien und ihre Zeit in Warschau und Berlin. Inhaltlich, gedanklich, sprachlich höchst empfehlenswert.

26. August 2022


Henry Kissinger: Staatskunst. Sechs Lektionen für das 21. Jahrhundert

Denker als Politiker und umgekehrt. Außerdem hochgebildet. Wie viele gab und gibt es? Da schweigt des Sängers Höflichkeit, schwelgt jedoch von Intellekt, Wissen und der strategischen Analysefähigkeit des legendären US-Außenpolitikers Henry Kissinger. Sein neuestes Buch habe ich mit großem Genuss gelesen.

Kissinger bietet sechs Porträts: Konrad Adenauer, Charles de Gaulle, Richard Nixon,, Anwar el-Sadat, Lee Kuan Yew (Staatsgründer Singapurs) und Margaret Thatcher. Großartig ist die Synthese aus Geschichte, Politik, strategischem Denken, Information, Essay und persönlichen Anekdoten.

Das Lesevergnügen wird allerdings durch nicht selten schlampige Übersetzungen getrübt. Hier merkt man, dass die acht (!) Übersetzer offenbar unter erheblichem Zeitdruck standen. Das recht umfangreiche Zuträger- bzw. Mitarbeiterteam Kissingers hat auch nicht immer fehlerfrei gearbeitet. Frankenkönig Chlodwig gehört eher ins 5. als in 4. Jahrhundert. Im Adenauer-Kapitel wird die spätere Brandt-Ära freundlicher Kosmetik unterzogen – obwohl gerade Kissinger so manchen Strauß mit Brandt und dessen Alter Ego Bahr focht.

Alle Adenauer-Nachfolger erwähnt Kissinger. Nur Gerhard Schröder nicht. Warum? Ein Freund der USA war der Putin-Freund nie. Hans Globke war, anders als von Kissinger behauptet, nicht „Verfasser“ der Nürnberger Rassengesetze, sondern deren Kommentator.

In der Darstellung der Sadat-Initiative findet man leider viele wichtige inhaltliche, personenbezogene und zeitliche Auslassungen, gar Fehler. Dass Jordanien 1973 „das Westjordanland besetzt hielt“, ist schlicht falsch. Ebenso, dass „die Sowjets“ 1970 „nicht mehr auf Nassers Bitten um Hilfe“ reagierten. Sie setzen MIG-Jagdflugzeuge und eigene Piloten für Nassers Ägypten gegen Israel ein. Die PLO wurde 1964 nicht in Kairo, sondern Ost-Jerusalem gegründet, das 1948 von Jordanien völkerrechtswidrig annektiert worden war.

Fehler dieser Art passieren eben, wenn wirklich große Geister sich den Luxus leisten können, das Klein-Klein Mitarbeitern zu überlassen und Verlage Generalisten als Lektoren beschäftigen. Trotzdem: Der große intellektuelle Genuss bleibt trotz der kleinen Mängel.

22. August 2022


Zwei Leckerbissen für diejenigen, die sich fürs neudeutsche Judentum sowie extrem Orthodoxe  in Israel interessieren:

Matthias Springborn: Jüdische Kinder- und Jugendbildung in Deutschland seit 1945

Das Buch bietet mehr als der bescheiden begrenzte Titel verspricht. Die Leser werden mit Einblicken in innerjüdisch-deutsche, zionistisch-antizionistische, religiös-antireligiöse sowie diasporajüdisch-israelische Debatten belohnt. Jenseits deutscher Betroffenheitsphrasen eingemacht Jüdisches.

Ebenso und heftig:

Eik Dödtmann: Die Charedim in Israel im 21. Jahrhundert, Der Status quo zwischen Staat und Ultraorthodoxie

Wer wissen will, wie jüdische Fundamentalisten denken und „ticken“, arbeite sich durch dieses fundierte Buch. Auch diese Lektüre lohnt, weil man erheblich mehr erfährt als das medial Gebotene.

25. April 2022


Michael Wolffsohn empfiehlt zwei religionshistorischen Leckerbissen, die er kürzlich las:

Louis Ginzberg: Die Legenden der Juden

„Kenne ich“, werden Kenner einwenden. Irrtum. Anders als etwa das von Bialik / Ravnitzki herausgebene „Sefer HaAgada“ oder andere bisherige Jüdische Legenden (=Agadot)-Sammlungen, auch hebräische, sind hier erstmals alle aus allen bislang verfügbaren, auch außertalmudischen und frühchristlichen (!) Quellen zusammengetragen. Gegliedert ist es gemäß der Bibel-Reihenfolge, ergänzt um „Judah und Israel bis zur Zerstörung Samarias“, Exil, Rückkehr.

Es handelt sich dabei auch buchhistorisch um relativ Neues: Eine „Hybridausgabe“. Neben der Printausgabe gibt es also auch eine vollständige digitale Ausgabe, die auch die „Digitalisate“ des Manuskripts umfasst. Ein monumentales Werk. Man kann es häppchenweise zum echten Vergnügen lesen oder wissenschaftlich auswerten.

Reinhard G. Kratz: Qumran, Die Schriftrollen vom Toten Meer und die Entstehung des biblischen Judentums

Ohne Kenntnisse dieser Schriftrollen weiß man nichts über die Entstehung des biblischen Judentums. Dieses Buch bietet die derzeit beste, weil aktuelle auch historisch kulturelle und theologische Einführung.

6. April 2022


Natan Sznaider: Fluchtpunkte der Erinnerung – Über die Gegenwart von Holocaust und Kolonialismus

Brilliant! Dieses Buch über ein Thema, bei dem man sonst nur auf Meinungen, Propaganda und Einseitigkeiten stößt: Holocaust oder Kolonialverbrechen – was war schlimmer?

Mit dem Analyse-Instrument der PERSPEKTIVE bietet der Soziologe Natan Sznaider a) eine durch und durch sachliche Darstellung der jeweiligen Interpretation und wägt sie b) rational ab, ohne je den Fokus auf das Menschliche zu verlieren. Sowohl als auch und nicht Entweder-Oder ist möglich, analytisch ebenso wie emotional und nicht zuletzt politisch.

Ohne Polemik, immer empirisch und gewichtend ordnet Sznaider Holocaust und Kolonialverbrechen, Antisemitismus und Antizionismus in den Zusammenhang deutscher und europäischer Geschichte plus Politik ein.

Seit Dan Diners „Ein anderer Krieg“ kein so abwägendes, doch im Urteil klares, informiertes, informierendes und gut geschriebenes Sachbuch ohne Schwurbeleien gelesen. Das Buch ist nicht frei vom Fachjargon, aber in auch für Fachfremde sehr erträglichen Maßen. Zu diesem Thema erschien zuletzt manches. Sznaider liefert Bestes.

31. Januar 2022


Roman Deininger und Uwe Ritzer: Die Spiele des Jahrhunderts. Olympia 1972, der Terror und das neue Deutschland

Bald jähren sich die Olympischen Spiele in München zum 50. Mal. Dazu haben Roman Deininger und Uwe Ritzer von der Süddeutschen Zeitung ein vortrefflich recherchiertes und packend geschriebenes Buch veröffentlicht:

Bunt, fröhlich und heiter sollten die Münchener Spiele 1972 werden. Sozusagen das neu- und bundesdeutsche Kontrastprogramm zu Hitler-Deutschlands Olympischen Spielen 1936 in Berlin. Am 5. September 1972 war Schluss mit lustig. Palästinensische Terroristen überfielen Israels Olympioniken. Am Ende ein Blutbad. Doch „The games must go on“, entschied der amerikanische IOC-Präsident Avery Brundage, einst bekennender und aktiver Freund der Nazis. Die historischen Hintergründe der Spiele von 1936 und 1972, ihre weltpolitisch-psychologische Verflechtung, die zunächst wirklich heitere und entspannte Münchener Olympiade, den Terroranschlag, die außen- und sicherheitspolitischen Verwicklungen sowie die diversen Nachspiele bis in die Gegenwart schildern die Autoren. Wärmstens empfohlen sei dieses Buch allen, die wissen wollen, wie „es“ dazu kam und warum es wie weiterging.

7. Januar 2022


Avraham Siluk: Die Juden im politischen System des Alten Reiches

Das Heilige Römische Reich Deutscher Nation war auch in der Frühen Neuzeit kein Paradies auf Erden für Juden (und Nichtjuden), aber längst nicht so (vor)höllisch wie kühne Geschichtskonstrukteure und vor allem geschichtelnde Tischgesellschaften, Journalisten oder Politiker erzählen.

Dieser Tage las ich von Avraham Siluk: Die Juden im politischen System des Alten Reiches, De Gruyter / Oldenbourg, München 2021. Wer wissen will, wird's mögen.

Diese Lesezeit lohnt mehr als die meisten Veranstaltungen zu „1700 Jahre Juden in Deutschland“.

20. Dezember 2021


Franz Kafka – Die Zeichnungen

Einige wenige kannte man ja schon aus den bisher veröffentlichten Werken, aber eben nur wenige. Seine minimalistischen Bilder beinhalten ein Maximum an inneren Aussagen, die Kafka sichtbar machte. Insofern sind die Zeichnungen Kafka II, also der große Dichter Kafka mit anderen Mitteln, den Mitteln der Bildenden Kunst. Atemberaubend. Für diejenigen, die noch nie Kafka gelesen haben (ein echtes Defizit), sind diese Zeichnungen der optimale Einstieg: Vom Bild zum Wort. „Hier wird's Ereignis“.

16. November 2021


Michael Mertes: Zyklen der Macht. Dynamik und Stagnation, Aufstieg und Niedergang in der Politik

Seit langer Zeit das (für mich) erste und wirklich nützliche Politik-Sachbuch, das Theorie und jahrzehntelange Praxis miteinander verbindet. Kein Wunder, denn Michael Mertes gehörte lange Zeit zum engsten Kreis um Bundeskanzler Helmut Kohl. Er zählte spätestens seit der Ära der Wiedervereinigung bis zum Ende der Kohl-Kanzlerschaft zur Kohl-Morgenrunde und konnte auf diese Weise, beratend und beobachtend, Kohls Gipfel-Aufstieg und dessen Abstieg bis zum unfreiwilligen Ausstieg, nach der Wahl 1998, erleben. Danach war er Staatssekretär in Nordrhein-Westfalen und Vertreter der Konrad-Adenauer-Stiftung in Israel. Nicht uninteressant: Sein Vater, Alois Mertes, war einer der wenigen echten CDU-Außenpolitiker. Sein Bruder Klaus deckte als Erster den Missbrauch in der Welt der Katholischen Kirche auf und machte ihn öffentlich. Michael Mertes hat Politik als Handwerk und mit gelebter Ethik sozusagen mit Muttermilch eingesogen. Die meisten Politiker-Bücher sind Selbstbeweihräucherung. Dieses liefert Analyse und Reflexion. Den jetzt erfolgten Niedergang der CDU hat Michael Mertes analytisch in diesem Buch vorhergesagt. Sehr zu empfehlen.

Gar nicht nebenbei: Michael Mertes ist auch ein Schöngeist. Er hat je ein zweisprachiges Buch mit seinen wunderbaren Übersetzungen aller Shakespeare-Sonette und der Gedichte von John Donne veröffentlicht.

21. Oktober 2021

 

 

 

 

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